Ich will nicht undankbar sein – aber es tut trotzdem weh
- Katrin Eilenberger
- 14. Mai
- 3 Min. Lesezeit
Es gibt Gefühle, die nicht laut sind.
Sie schreien nicht. Sie zerstören nichts.
Aber sie nagen. Still. Tief.
Und sie tauchen oft genau dort auf, wo eigentlich alles „gut“ ist.
Du hast es geschafft. Du hast dich angestrengt.
Du hast bekommen, was du wolltest.
Du bist geliebt, anerkannt, vielleicht sogar bewundert.
Und trotzdem – zieht sich etwas in dir zusammen.
Ein Schmerz, der keine klare Ursache hat. Eine innere Leere, die nicht logisch erklärbar ist.
Und dann kommt dieser Gedanke:
„Ich will nicht undankbar sein – aber es tut trotzdem weh.“

Der Schmerz hinter dem Glück
Wir leben in einer Welt, die Dankbarkeit glorifiziert.
Du sollst das Beste aus allem machen. Du sollst das Gute sehen.
Du sollst dankbar sein, dass du lebst, dass du Arbeit hast, dass du gesund bist.
Und das stimmt ja auch.
Aber was, wenn du trotzdem leidest?
Was, wenn du – trotz allem – oft das Gefühl hast, nicht ganz angekommen zu sein?
Nicht ganz du selbst zu sein?
Nicht wirklich verbunden, nicht wirklich gesehen?
Darf das sein? Oder bist du dann undankbar?
Wenn Wahrheit sich nicht gut anfühlt
Es ist unbequem, sich einzugestehen, dass das eigene Leben – so wie es ist – nicht immer erfüllt.
Es kratzt an einem Bild, das wir aufrechterhalten wollen:
Das Bild vom bewussten, selbstverantwortlichen Menschen.
Der seinen Weg geht, der reflektiert ist, der aufräumt, sich entwickelt, wächst.
Aber was, wenn Entwicklung nicht linear ist?
Was, wenn auf die Dankbarkeit eine Traurigkeit folgt?
Was, wenn alte Wunden sich melden, gerade dann, wenn äußerlich Ruhe eingekehrt ist?
Wahrhaftigkeit fühlt sich nicht immer gut an.
Aber sie ist der einzige Weg, der wirklich trägt.
Warum so viele schweigen
Es gibt unzählige Menschen, die innerlich erschöpft sind – und sich schuldig fühlen, weil sie glauben, es „dürfte ihnen gar nicht schlecht gehen“.
Sie haben doch alles: Partner, Kinder, Beruf, Dach über dem Kopf.
Und genau dieses „Ich hab doch alles“ wird zur Falle.
Denn es macht sie stumm.
Und es zwingt sie, den Schmerz zu verdrängen, statt ihn zu verstehen.
So entsteht eine stille Form der Einsamkeit:
Man lebt in einem scheinbar stabilen System –
und fühlt sich trotzdem heimatlos im eigenen Inneren.
Was wäre, wenn es nicht um Undankbarkeit geht – sondern um Tiefe?
Was wäre, wenn Schmerz und Dankbarkeit gleichzeitig existieren dürfen?
Wenn es okay ist, zu sagen:
„Ja, ich bin dankbar – aber ich bin auch müde. Auch verletzt. Auch verwirrt.“
Es geht nicht darum, negativ zu sein.
Es geht darum, wahr zu sein.
Denn nur was du benennst, kannst du auch bewegen.
Die Lüge der Positivität
Wir sind umgeben von Stimmen, die sagen: „Denk positiv. Sei lichtvoll. Sei dankbar.“
Und oft ist das nichts anderes als ein spirituell verpackter Leistungsdruck.
Aber echte Entwicklung heißt nicht: gut drauf bleiben.
Sondern: hinschauen, auch wenn’s weh tut.
Zuzugeben, dass du dich verloren hast – auch wenn du anderen Orientierung gibst.
Zuzugeben, dass du zweifelst – auch wenn du viele Antworten kennst.
Wahrhaftigkeit beginnt mit einem Satz
Manchmal reicht es, sich selbst zu sagen:
„Ich will nicht undankbar sein – aber es tut trotzdem weh.“
Darin steckt kein Trotz. Kein Ego. Kein Drama.
Sondern ein Mensch, der sich nicht mehr zwingen will, so zu tun, als wäre alles okay.
Ein Mensch, der merkt:
Da ist etwas, das gesehen werden will.
Nicht von außen. Sondern von innen.
Vielleicht beginnt etwas Echtes genau da
Nicht in der nächsten Affirmation.
Nicht im nächsten Versuch, „es richtig zu machen“.
Sondern in einem stillen, ehrlichen Moment mit dir selbst.
Wenn du aufhörst, dich zu verurteilen.
Wenn du dir zuhörst – ohne gleich zu analysieren.
Wenn du einfach nur da bist mit dem, was gerade ist.
Ohne Bewertung. Ohne Ziel.
Nur mit einem offenen, wachen Herzen.
Und wer weiß.
Vielleicht ist genau dieser Punkt –
wo Dankbarkeit und Schmerz sich berühren –
nicht das Ende.
Sondern der Anfang einer neuen Wahrheit:
leiser, klarer, echter.
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